Die Brücke zu Oberkrähbach

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Wo flattert, gackert und scharrt man noch aus einfacher und unverkopfter Lust?

Völlig ohne Konzept, ohne Terminstress, ohne Erfolgsgier?

In Unterkrähbach!

 

Hier sind Hahn und Henne zufrieden. Gackern über dies und jenes, scharren mal hier und scharren mal da. Wem hier jetzt ein Bild von Langeweile in den Sinn kommt, möge bitte sofort aufhören, Zufriedenheit mit Stillstand zu synonymisieren.

 

Werfen Sie doch einfach mal einen Blick auf ein Unterkrähbacher Original, das Huhn Grete. Dort drüben mischt sie gerade Wasser mit Erde. Vorhin beim Scharren kam sie nämlich auf eine tolle Idee und setzt sie – aus keinem anderen Grund als aus purer Lust – direkt in die Tat um. Der große Scharrplatz aus verschiedenen Sandarten ist schon fertig, genauso wie der nierenförmige Flachpool für die anschließende Abkühlung und Erholung des Geläufs. Daneben hat sie eine tiefe Mulde gegraben, diese füllt sie jetzt mit Schlamm. Einmal hier durchgewatet kann das wellness-affine Gackervieh die Schlammkur im Liegestuhl einwirken lassen und diese anschließend unter der zur Dusche umfunktionierten Gießkanne abspülen. Damit hat Unterkrähbach ein neues Highlight: „Gretes Kurgarten“.

 

In dem kleinen Dorf ist der neue Kurgarten schnell bekannt und so scharren und pritscheln bald sämtliche Hähne und Hühner im materialisierten Glücksgefühl herum. Kein Zeitdruck, kein Wetteifern, nur genießen – so läuft es in Unterkrähbach.

 

Heute kommen die gefiederten Dorfbewohner sogar noch zu einem weiteren Genuss. Schauen Sie ruhig selbst auf die Anschlagtafel:

 

Feierliche Eröffnung der Brücke zu Oberkrähbach

 

So finden sich ausnahmslos alle Unterkrähbacher genau um 19 Uhr beim Brückenaufgang ein. Und wer die Unterkrähbacher kennt, weiß: Weniger wegen der neuen Direktverbindung nach Oberkrähbach selbst, sondern vielmehr, wegen des meterlangen Mehrkornstrudels, den die gute Henne Hanne nur zu besonderen Anlässen bäckt. Es kursieren sogar Gerüchte, dass das ein oder andere Dorfdenkmal nur errichtet wurde, damit Hanne wieder bäckt. Da wird dann zusammengesessen, gepickt, geschunkelt und gegackert bis in die frühen Morgenstunden. Und genau so geschieht das auch heute bei … der Einweihung der … ach ja, der Brücke … .

 

Für viele war Gretes Schlammkur die perfekte Vorbereitung auf den ausgelassenen Abend …

 

Die Brücke ist mächtig.

 

… und ist gleichzeitig die beste Erholung für den Morgen danach.

 

Da treffen sich Hähne und Hühner gleichermaßen wieder bei Grete und schwärmen im Schlammbad ausgiebigst von Hannes Mehrkornstrudel. Hören Sie selbst:

 

„Die Kruste aus Sonnenblumenkernen, die war sensationell!“

„Und innen die Körner so weich und so würzig fein!“

„Ja, wie sie das nur immer wieder hinkriegt, unsere Hanne!“

„Oh, ja.“

„Kannst du mir bitte kurz den Rücken einschlammen?“

„Haha, gestern wurde geschlemmt, heute geschlammt!

„Wie geht es uns doch gut!“

 

Achten Sie auf die dunkle Wolke, die von der anderen Seite des Krähbaches herüberzieht. Erst klingt ein Satz so harmlos – eingebettet in alle anderen Sätze. Dann sickert der Satz und plötzlich wirkt er und entleert das Glücksgefühl bis auf einen kläglichen Rest.

 

„Ach ja, herrlich ist das! In Oberkrähbach soll es ja ein Huhn-Hahn-Hammam geben, das soll ganz toll sein!“

„Wie lange soll man denn den Schlamm hier eigentlich einwirken lassen?“

„Ja, genau, mich juckt er auch schon überall.“

„Ich habe auch das Gefühl, dass meine Federn nach dem Schlamm weniger glänzen statt mehr!“

„Also ich dusch das jetzt ab, ich schau mir das mal in Oberkrähbach an.“

 

Die Brücke wartet.

 

„Ich komme mit.“

„Ich auch.“

„Na dann, dann komm’ ich auch mit!“

„Hm. Wenn sonst keiner mehr da ist, geh ich auch mal.“

„So ein Hammam, klingt doch interessant, irgendwie.“

 

So verlässt Huhn für Huhn den Kurgarten und Grete bleibt allein zurück. Gut. Feierabend. Sie klappt die Liegestühle zusammen, rührt den Schlamm und glättet den Scharrplatz mit dem Rechen. Heute kommt wohl keiner mehr. Da denkt Grete richtig. Und wenn sie das auch über die nächsten Tage denkt, denkt sie auch richtig. Ab und zu verläuft sich mal jemand in ihren Kurgarten, aber nachdem sonst keiner da ist, verfliegt die Lust auf ein Schlammbad schnell und das Huhn gleich mit.

 

So hat Grete wieder Zeit, durch das Dorf zu spazieren. Es wird immer noch gegackert und gescharrt und geflattert, es hat sich nichts verändert. Aber trotzdem ist es irgendwie anders. Die Hühnergrüppchen sind kleiner geworden.

 

Auf ihrem Heimweg kommt Grete an der Brücke vorbei.

 

Die Brücke starrt sie an.

 

Zuhause besinnt sich Grete auf das, was ihr Spaß macht, sie scharrt in ihrem Garten. Und scharrt. Und scharrt. Und wie sie so scharrt, stellt sie fest, welch tolle Qualität dieser Boden hat. Ein wunderbarer Nährboden für sämtliche Pflanzen! Sogleich sammelt Grete verschiedenste Pflanzen aus dem Dorf und aus dem Wald und setzt sie in ihrem Garten ein. Rund um den nierenförmigen Teich. Daneben Liegestühle. Aus dem Radio lässt sie klassische Musik erklingen. Wieder hat sie ein kleines Paradies geschaffen. Sie ist glücklich. Und zufrieden. Mit ihrem Park.

 

Solange bis sie eine „Einladung zur Parkeröffnung“ in Oberkrähbach erhält. Solange hat sie sich in ihrem traumhaften Park wohlgefühlt. Jetzt entweicht die innere Ruhe aus Grete wie Luft aus dem Ventil einer Luftmatratze. Schnell holt sie ihr sagenhaft schönes Cocktailkleid aus ihrem Hühnerhäuschen, es ist cognacbraun mit einem Carmenkragen in knalligem Pink und es steht ihr umwerfend gut! Dazu steckt sie sich dem Anlass entsprechend eine rosa Blüte in die Kopffedern. Toll! So kann sie los.

 

Sehen Sie, wie elegant sie die Straße entlang schreitet, den Dorfplatz durchquert und schließlich über die Brücke geht.

 

Hat die Brücke etwa hämisch gegrinst?

 

In Oberkrähbach angekommen kann Grete anhand vieler Licht- und Laserspiele leicht erkennen, wo der Park sowie dessen Eröffnung ist. Kaum geht sie durch den Eingangsbogen, findet sie sich umringt von aufgeregtem Gegacker. Wow, was für ein Trubel! Große Gebilde aus weißen Blumen bilden die Leinwand für ein beeindruckendes Lichtspektakel. Die bunten Strahlen tanzen im Rhythmus der Elektromusik durch die Parkanlage.

 

Die Oberkrähbacherinnen sind sehr hübsch und stilvoll. Ein Kleid ist schöner und origineller als das andere. Im Vergleich dazu findet Grete ihres kitschig und altmodisch. Oh mein Gott. Zum Glück hat sie noch keiner zur Kenntnis genommen.

 

Sie läuft nach Hause,

 

Hat die Brücke sie gerade ausgelacht?

 

in ihren eigenen Park.

 

Da ist sie nun, in ihrem Park. Der gleiche Park, der vor einer halben Stunde noch ihr Paradies war, ist jetzt ein klägliches Zusammengestoppel aus mickrigen Pflanzen. Das Kleid, in dem sie sich vor 20 Minuten noch wie eine Diva gefühlt hat, gibt ihr jetzt das Gefühl eines aufgetakelten Landeis.

 

Es ist der gleiche Park. Es ist das gleiche Kleid. Es ist die gleiche Grete. – Ist sie nicht.

Es ist der gleiche Park. Es ist das gleiche Kleid. Aber es ist nicht die gleiche Grete!

Sie hat was anderes gesehen, hat das mit ihrem verglichen und kann jetzt nicht mehr zurück. Nicht mehr zurück ins Glück.

 

Die Brücke ist schuld.

 

Die Brücke muss weg! Die Brücke ist der Feind des Glücks! Grete ist eine Macherin, sie ist wild, entschlossen, sie protestiert gegen die Brücke!

 

Erleben Sie nun einen historischen Moment: Die erste Demonstration aller Zeiten im friedlichsten Dorf der Welt: in Unterkrähbach!

 

„Die Brücke ist der Beginn der Unzufriedenheit.“

„Die Brücke muss weg!“

„Unterkrähbach soll Unterkrähbach bleiben!“

All das steht auf Gretes Schildern, die Sie am Brückenaufgang positioniert hat.

 

Die Brücke ist teilnahmslos.

 

Einige Oberkrähbacher kommen über die Brücke, sehen Grete mit ihren Protestschildern und reagieren betroffen.

 

„Was hast du gegen uns?“

„Ihr vernichtet unsere Zufriedenheit! Ihr habt das tollere Hammam, ihr gebt die tolleren Partys! Und plötzlich sehen wir grau aus. Und sind unzufrieden!“

Grete ist außer sich und kräht und schimpft, während die Oberkrähbacher verwundert vor ihr stehen.

„Aber wir sind doch gar nicht toller! Wer sagt das? Nur anders!“

Niemand sagt das. Hat das nur Grete so empfunden? Vielleicht, weil sie ihr persönliches Lebensumfeld in den Vergleich gezogen hat?

Grete sammelt ihre Schilder ein und geht nach Hause. Sie denkt. Und grübelt. Viel.

 

Die Brücke ist eine Veränderung.

 

Drei Tage sind vergangen, da bäckt Hanne wieder ihren allseits beliebten Mehrkornstrudel. Warum fragen Sie? Heute wird eine Gedenktafel eingeweiht, gestiftet von Grete. Eine Messingtafel, auf der in schnabelgepickten Lettern geschrieben steht:

 

Zufriedenheit ist keine Kunst,
wenn man keine anderen Möglichkeiten kennt.
Zufriedenheit ist dann eine Kunst,
wenn man sich selbst genug ist,
obwohl man andere oder die Dinge anderer toller findet!

 

Ob diese Erkenntnis für alle Unterkrähbacher von Bedeutung ist? Ob sie alle verstehen? Ob sie der gleichen Meinung sind? Völlig egal, denn Hanne hat gebacken und da sitzt man zusammen. Zufrieden.

 

Die Brücke ist … eine Brücke.

 

 

 

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