Korongkokong, Korongkokong – so schlägt das Familienherz

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Etwa einmal im Jahr kommen Lindas Eltern zu Besuch. Das ist heute, und das ist gut. Sehr gut sogar. Denn wenn man drei Kinder hat und keine Großeltern in Reichweite, fühlt sich so ein Dreitagesbesuch wie der Sprung aus einem kurzen Zeitfenster in die unendliche Freiheit an. Allerdings hatte bisher weder Linda noch ihr Mann Marc Zeit, sich um die Gestaltung eben dieser abendlichen Freiheit zu kümmern. Eine Mini-Recherche lässt die Entscheidung schnell auf das Kabarett Oberhuber fallen, da haben sie immer gute, wenn auch schon länger zurückliegende, Erfahrungen gemacht. Das Programm heißt eMANNzipiert und verspricht eher nicht die gesuchte Romantik, konzentriert und im Schnellverfahren. Aber egal. Linda geht es vorrangig darum, mal wieder Zeit mit Marc zu verbringen. Nur sie beide, fern der heimischen Couch und fern den zum Einschlafen verführenden Wolldecken.

Marc fährt das Auto aus der Einfahrt, Linda steigt ein und knallt die Tür zu. Beide halten den Blick geradeaus gerichtet.

„Ist irgendwas?“, bekundet Marc sein Interesse an der möglichst baldigen Einkehr von Harmonie. „Linda, wenn ich die Wäsche in den falschen Korb sortiert hab, tut es mir leid.“ Er legt seine Hand auf ihren Oberschenkel, doch Linda zieht ihr Bein sofort weg.

„Es geht hier nicht nur um die Wäsche an sich, sondern um die Geringschätzung, die du mir damit entgegenbringst!“

„Was?“, reißt Marc Augen und Mund auf.

„Ja, in Wirklichkeit ist es dir doch egal, wo du die Wäsche reinschmeißt! Du weißt ja, da gibt es eine Idiotin, die sie dann sowieso sortiert.“

„Das stimmt doch überhaupt nicht!“,entgegnet er nun ihr mit vorwurfsvollem Blick. Dann senkt er den Ton doch auf ein versöhnliches Timbre: „Ich schätze alles, was du für uns und für die Familie tust, du machst das ganz toll! Aber lass uns das bitte jetzt wegschieben und den Abend genießen.“

Linda kann aber jetzt nicht hopplahopp aus dieser Grummel-Zwangsjacke raus, sie muss noch ein bisschen bockig sein. Wenigstens noch so lange, bis sie eingeparkt haben, bis Marc ihr wertschätzend die Tür aufgehalten, ihr wertschätzend aus dem Mantel geholfen, wertschätzend die Eintrittskarten geholt und wertschätzend zwei Gläser Wein bestellt hat.

Er hebt sein Glas: „Auf unseren Abend! Ich liebe dich.“

Linda stößt mit ihm an, blickt ihm in die Augen und … küsst ihn endlich. Der Situation zugute kommt ihr Mitteilungsbedürfnis. Schon viel zu lange warten in ihr viele Erlebnisse und Gedanken, die alle erzählt werden wollen.

Es läutet. Eine Durchsage: „Wir dürfen nun alle Gäste bitten, die Sitzplätze einzunehmen, das Programm startet in fünf Minuten.“ Zum Glück darf man den Wein mit hineinnehmen.

Schrille Darstellerinnen, schrille Outfits, schriller Gesang – und inhaltlich geht es nicht über die Kurzzusammenfassung des Stücks auf der Homepage hinaus. Die war nur angenehmer.

Ohne Marc anzusehen, weiß Linda, dass sie in der Pause definitiv gehen werden. Bis dahin müssen sie noch durchhalten.

Ausgespuckt vom Kabarett Oberhuber, stehen sie nun auf der Straße. Es nieselt und ist irre kalt. Wohin sollen sie jetzt? Gegenüber zum Inder? Warum nicht. Sie haben zwar keinen Hunger, aber es ist schließlich erst fünf nach acht, und was könnten sie sonst machen? Leider quittiert die nette Dame im Sari die Frage nach einem Tisch für zwei Personen mit einem entschuldigenden Kopfschütteln.

„Okay, was jetzt?“

„Gehen wir halt ein Stück stadteinwärts und setzen uns in eine nette Bar.“

„Da kommt lange nichts. Außerdem friert‘s mich ohne Ende. Und ich habe hohe Schuhe an.“

„Hm. Wir könnten zu unserem Tibeter gehen, du weißt schon, den in der Ludwigsgasse.“

„Ach ja, der, wo du so scharf gegessen hast, dass dein Hemd ganz durchgeschwitzt war?“ Marc nickt lächelnd.

„Der war nett, da gehen wir hin.“

Dreieinhalb Kilometer mit dem Auto und sofort einen Parkplatz direkt vorm Restaurant gefunden – so soll es offensichtlich sein. Linda und Marc betreten das tibetische Restaurant. Irgendwie riecht es hier komisch. Die Tischdecken, waren die damals auch schon so? Und die schwarze Lederlounge passt stilistisch hier irgendwie gar nicht rein. Die tibetische Mediationsmusik ist sehr laut und raumfüllend.

„Wir bleiben jetzt hier“, sagt Marc. „Hey, das ist unser Abend, wir schalten die Umgebung einfach aus.“

„Meinetwegen.“

Zwanzig vor neun ist bereits alles erledigt: bestellt, getrunken, gegessen – und jetzt?

„Ich hab den Kindern erlaubt, dass sie ausnahmsweise bis neun aufbleiben dürfen“, fällt Linda ein. „Wir können also auf gar keinen Fall vorher daheim aufkreuzen.“

Marc unterdrückt ein Gähnen.

„Ehrlich gesagt bin ich müde, und so berauschend ist es hier nun auch nicht.“

Er bezahlt.

Als sie zu Hause ankommen, ist es zehn nach neun. Willi schlummert in seinem Gitterbett, Anna und Emil verstecken sich zwischen Oma und Opa im Wohnzimmer unter der Wolldecke.

Oma zwinkert ihnen zu. „Anna und Emil schlafen schon gaaanz lange, ihr könnt also ruhig auch ins Bett gehen.“

Kinderlachen aus dem Deckenberg.

„Lest ihr uns noch eine Geschichte vor?“, bettelt Anna.

„Morgen wieder“, sagt Linda und streift die Schuhe ab. „Jetzt geht‘s ab in die Kiste. Habt ihr schon Zähne geputzt?“

Ehe sie sich‘s versieht, befindet Linda sich wieder in ihrem alltäglichen Abendritual, nur eine Stunde später als sonst und noch etwas erschöpfter. Danach sitzt sie mit Marc und ihren Eltern auf der Couch, eingemummelt in ihre Wolldecke – wie immer. Das war dann also der Abend, der dafür bestimmt war, wahlweise lustig, romantisch, verrückt, kulturell wertvoll oder einfach irgendwie anders zu sein als sonst, denkt Linda enttäuscht.

 

KORONGKOKONG

KORONGKOKONG

KOROKOKONG

 

Der Wecker läutet, Linda steht auf – schon steht auch ihre Mutter im Flur: „Sag mir einfach, wie ich dir helfen kann“, bietet sie an.

„Ich lege kurz für alle die Anziehsachen raus, wenn du Willi anziehen könntest, wäre das toll.“

Sie knipst das Licht im Kinderzimmer an. „Guten Morgen! Aufstehen, ihr Murmeltiere! Es ist schon sieben!“

Linda steigt zwei Stufen zum linken Hochbett hinauf und streichelt über Annas Wange. „Guten Morgen, meine Süße! Komm, steh jetzt auf, ich hab dir was Schönes zum Anziehen hergerichtet! Das neue Jeanskleid heute, okay?“

Weiter zum zweiten Hochbett: „Guten Morgen, mein Großer, aufstehen! Deine Sachen liegen auch auf der Couch, alles klar?“

Kein Mucks, keine Reaktion aus beiden Betten.

„Zieht euch bitte an und dann marsch ins Bad! Ich mache inzwischen das Frühstück. Was wollt ihr denn aufs Brot haben?“

„Nutella!“, ruft es von rechts.

„Netter Versuch, Emil, aber Nutella gibt’s nur am Wochenende. Honig? Marmelade? Avocadocreme? Käse?“

„Für mich dann Honig“, gibt Emil nach.

„Hm, Marmelade, aber ich weiß noch nicht welche“, kommt es von Anna.

„Während du überlegst, Anna, kannst du ja schon mal vom Bett runterkommen. Ich hab Erdbeere oder Marille.“

„Dann eine Hälfte Erdbeere und eine Hälfte Marille.“ Anna lächelt verschmitzt.

Linda stöhnt. „Gut, aber jetzt komm endlich runter und zieh dich an.“

„Emil, wenn du im Bad fertig bist, kannst du mir dann eure Pausenboxen in die Küche bringen?“

„Immer ich!“

Linda geht in die Küche und toastet und streicht und toastet und streicht und streicht noch mal und legt die bestrichene Frühstücksauswahl auf einen großen Teller.

Im Wohnzimmer hört sie Willi mit Oma kämpfen. „Nein, Mami!“, quietscht Willi.

„Komm Willi“, sagt Oma geduldig, „weißt du was, jetzt spielen wir Verstecken.“ Sie streift ihm den Body über den Kopf. „Wo ist denn der Willi?“

Willi reicht es jetzt, er fängt kraftvoll an zu kreischen: „Maaaamiiiii!“

Linda nimmt schnell den halb nackten Willi auf den Arm und gibt ihrer Mutter eine andere Aufgabe:

„Mama, kannst du vielleicht den Tisch decken, Wassergläser dazu und den Wasserkrug bitte.“

„Anna, bist du schon angezogen?“, fragt Linda ins Kinderzimmer.

„Nö, ist sie nicht“, petzt Emil, „sie hat erst ihre Unterhose an.“

„Du bist voll gemein!“, keift Anna.

„Ja, ja, aber ich muss immer deine Pausenbox holen, nur weil du so lange trödelst!“

„Was kann ich dafür, wenn mir halt schwindelig ist?“

Nach einer Weile rauscht Linda ins Kinderzimmer. „Jetzt reicht’s mir aber! Emil du gehst jetzt sofort ins Bad und dann ab zum Frühstücken!“ Linda dreht sich zu ihrer Tochter um.

„Wie siehst du denn aus?“ Anna trägt eine braune Winterleggings mit schwarzen Tupfen und dazu ein fröhlich geblümtes T-Shirt in Rosa und Türkis, das nicht, wie im Mutter-Tochter-Pakt vereinbart, über den Hintern geht, sondern im Gegenteil den freien Bauch zeigt.

„Anna, das T-Shirt ist erstens viel zu klein, zweitens passt es nicht dazu und drittens ist der Sommer jetzt vorbei. Anna verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt die Unterlippe vor. Linda überlegt kurz, wie viel sie bei einer 7-Jährigen noch beim Kleidungsstil mitreden sollte. Aber es ist kalt draußen, das Jeanskleid war teuer und Anna hatte es bis jetzt kaum an.

„Was hast du denn gegen das Jeanskleid, Mäuschen? Das ist doch richtig cool!“

„Damit kann ich aber keine Räder schlagen.“

„Dann lass halt einfach die Leggings drunter an.“

„Geht trotzdem nicht. Es ist zu eng“, quengelt Anna.

„Anna, kannst du bitte normal sprechen und nicht immer in diesem Jammerton?“ Linda sucht ein zur braunen Leggings passendes Langarm-Shirt heraus: beige mit einem Reh aus Glitzersteinen, das passt doch perfekt unters Jeanskleid.

„Nein, ich mag das Jeanskleid nicht anziehen!“, protestiert Anna.

„Anna! Du ziehst das jetzt genau so an, sonst kommen wir zu spät.“

Willi sieht ein Auto auf dem Boden liegen und will lieber damit spielen, als sein Frühstück zu essen. Na gut, er muss ja nicht pünktlich um 7:40 Uhr außer Haus so wie die Großen.

Linda schaut auf dem Weg in die Küche noch kurz ins Bad. Marc steht entspannt unter der Dusche, in Emils Haaren klebt eine haselnussgroße Portion Haarwachs neben dem Scheitel.

„Emil, du musst das Haarwachs noch verteilen.“

„Hab ich schon!“

„Hast du nicht, es ist ein Klecks an einer Stelle, hier, schau mal!“

„Aua, das tut weh! Du rupfst so!“ Linda versucht, ihm mit den Fingern die Frisur zu stylen.

„Mami! Der Willi hat das Auto auf mich geschmissen!“, kreischt Anna nebenan.

„Bist du inzwischen angezogen? Es ist schon nach halb acht.“

Anna weint jetzt. „Bitte Mami, ich mag das nicht anziehen! Das Kleid ist voll doof!“

„Okay, dann zieh irgendwas an und komm frühstücken.“ Linda hätte auch weiter streng sein können und das Jeanskleid durchfechten. Was wäre pädagogisch richtiger gewesen? Keine Ahnung, keine Zeit.

„Willi, komm, magst du auch frühstücken? Ein Brot mit Marmelade drauf, hm? Oder Honig? Von der Biene? Tsssssss … Biene? Hm?“

„Emil! Wo bleibst du?“

 

KORONGKOKONG

KORONGKOKONG

KOROKOKONG

 

Es ist 8:10 Uhr, Emil und Anna sind in der Schule, Willi ist in der Maikäfergruppe, ihre Eltern fahren in Richtung Supermarkt und Baumarkt. Sie erledigen für die Jungfamilie die längst fälligen Einkäufe, damit Linda zu Hause in Ruhe ihrem Psychologie-Studium nachgehen kann.

Eine große Tasse Kaffee dampft auf dem Tisch, ihr dickes grünes Lehrbuch, viele Blätter weißes Papier und verschiedene Buntstifte liegen vor Linda. Sie liest, fasst die Textstellen handschriftlich zusammen und gestaltet sie in verschiedenen Farben, damit sich der trockene Stoff besser im Kopf verankert. Dazwischen einen Apfel, mal einen Keks, noch eine Tasse Kaffee. Die Zeit vergeht rasch und viel bleibt ihr nicht mehr, dann kommen die Kinder wieder nach Hause. Sie sollte was Warmes essen und ruft Natalie an.

„Hallo Natalie, Linda hier, hast du Lust auf Kichererbsencurry im Weinberg-Café?“

„Nö, sorry, ich kann leider nicht. Ich muss noch die ganzen Kundenkorrekturen einarbeiten, damit die Flyer endlich fertig werden, bevor die Jungs nach Hause kommen.“

Natalie legt auf. Die Kundenkorrekturen liegen ausgedruckt neben ihrer Tastatur. Was steht da? Die Überschrift einen Zentimeter nach rechts einrücken und die Schrift auf 22 Punkt vergrößern. Was? Wer hat hier eigentlich die grafische Ausbildung? Das darf doch nicht wahr sein! Früher war sie die coole Art-Direktorin mit einem schwer erarbeiteten guten Namen in der Werbebranche. Auf jedem Werbefest gerne gesehen und durchaus mal mit dem einen oder anderen fragwürdigen Preis für ihre Arbeiten geehrt. Ihre Arbeiten waren damals Werbekampagnen für große Auto-, Windel- und Biermarken gewesen, für ein Handynetz, ein Hochglanzmagazin – stopp, jetzt nicht in alten Wunden bohren. Und jetzt? Jetzt soll ich eine Überschrift verschieben? Eine Überschrift! Jemand, der das Wort Überschrift benutzt, hat wohl im Rahmen eines Schulaufsatzes das letzte Mal einen Text verfasst und mit einer Zierleiste in Holzstiftfarben gestaltet. Und so jemand sagt ihr jetzt, wie sie mit übergroßen Headlines das von ihr durchdachte und ehemals sehr souverän wirkende Layout ruinieren kann. Was sie jetzt auf ihrem Bildschirm sieht, ist ein lächerlicher Flyer, wie sie ihn noch nicht mal als Praktikantin einer kleinen Werbeagentur verbrochen hätte. Was jetzt aus diesem Layout geworden ist, verletzt sie so sehr, dass ihr plötzlich die Tränen runterrollen. Sie wollen gar nicht mehr aufhören zu rollen. Schnell macht Natalie ein PDF davon und schickt die Datei Eissalon_Anz_Opening_final.pdf an Frau Blüml.

„Was gibt es heute zum Essen?“, tönt Natalies jüngerer Sohn Nicki und pfeffert seine Schultasche in die Ecke.

„Es ist noch Auflauf von gestern da, du kannst aber auch von der Kürbissuppe haben.“

„Sicher nicht. Hast du nix anderes?“

„Na klar, die hundertste Tiefkühlpizza in dieser Woche geht natürlich auch.“

Nicki, der die erste Klasse des Gymnasiums besucht, beginnt – mehrere Motivationsreden und Schokolade-Versprechungen später – mit den Hausaufgaben. Natalie nimmt sich fest vor, heute nicht zu schimpfen und nicht zu schreien.

„Wieso kann ich nicht erst mal entspannen und fernsehen?“, mault Nicki.

„Weil du damit dein Gehirn verlangsamst. Dann kriegst du nachher gar nix mehr auf die Reihe.“ Den Satz kann sie inzwischen schon als Langspielplatte rausbringen. Okay, Langspielplatte klingt ähnlich antiquiert wie Überschrift, trifft in dem Fall aber den Nagel auf den Kopf.

„Jetzt komm, ich setz mich zu dir“, bietet Natalie an. „ Wir ziehen das gemeinsam durch, dann haben wir es auch schnell hinter uns.“ Nicki sieht wenig überzeugt aus.

Leider hat Natalies Adlerauge natürlich sofort einen demotivierenden Rechtschreibfehler erspäht.

„Schau mal, den letzten Satz hier solltest du dir noch mal durchlesen.“

„Wieso, der stimmt doch!“

„Ach so? Seit wann schreibt man denn Spinne mit ‚ie‘ und nur mit einem ‚n‘?“

„Soll ich das jetzt noch mal schreiben?“

„Ja, klar, so kannst du das ja nicht stehen lassen.“

„Wir sollen aber zu Hause nichts ausbessern, damit die Lehrerin sieht, wie viel wir können.“

„Aber jetzt, wo du weißt, dass es falsch ist, kannst du es doch verbessern. Also bitte, bessere das jetzt aus.“

„Ja? Soll ich es also wegkillern?“

Natalie atmet tief ein und aus. Schließt die Augen und beruhigt sich mit einem lautlosen ‚Inhale. Exhale.’ Bloß nicht ausflippen! „Ja, schon. Bitte.“

„Das ist aber auch so ein blöder Text!“

Nun wird Natalies Ton doch etwas energischer: „Nicki, pass auf, wir haben jetzt fünf Minuten um ein Wort herumdiskutiert. Wenn wir so weitermachen, sitzen wir noch ewig da.“

„Aber warum kann ich nicht erst entspannen und später …“

„Nein! Weil später dein Bruder kommt, und da werde ich höchstwahrscheinlich ihn bei seinen Hausaufgaben anschreien müssen.“

Inhale. Exhale.

„Machen wir es so. Ich geh jetzt rüber zum Weinberg-Markt, kaufe ein paar Früchte und Kekse für uns und wenn ich wiederkomme, hast du Deutsch fertig und mit Mathe zumindest angefangen.“

Natalie geht gedankenverloren durch den Markt. Es kann doch nicht sein, dass die Hausaufgaben nie ohne Streiterei ablaufen. Dabei kann sie sich selbst gar nicht leiden, wenn sie mit den Kindern ungeduldig wird, das macht sie echt fertig.

„Hallo Natalie, wie geht es dir?“, mischt sich eine weibliche Stimme in ihre Bananenbestellung.

„Hallo Angie! Super, danke!“ Ein Bussi an der linken, ein Bussi an der rechten Wange vorbei, dann zu Angies Kindern: „Hey! Ihr zwei seid ja schon so groß geworden!“ Angie schaut sie immer noch fragend an, deshalb: „Job läuft, den Buben geht’s gut, alles fein eigentlich. Und dir?“ Angie zieht den Kinderwagen näher zu sich ran, um niemandem im Weg zu stehen.

„Auch super, danke! Ich arbeite ja jetzt wieder, und das tut mir echt gut, mal wieder rauszukommen und was anderes als Spielplatz-Outfits zu tragen.“ Natalie zahlt die Bananen.

„Nane! Leni auch Nane!“, tönt es aus dem Kinderwagen. Natalie zieht zwei Bananen aus der Papiertasche, gibt eine Leni im Wagen und die andere Sebastian, den Angie an der Hand hält.

„Wie sagt man da?“ Angie muss innerlich über sich selbst die Augen verdrehen. Den Satz hat ihre Oma schon immer gesagt. Kann man das nicht anders formulieren?

„Du, ich muss wieder heim, die Mathe-Hausaufgaben warten.“

Nach einer Bussi-links-Bussi-rechts-Verabschiedung, einem „Na klar, lass uns mal auf einen Kaffee gehen!“ und einem darauffolgenden „Ja, das wäre nett!“ trennen sich die Wege wieder.

Angie schiebt Leni und zieht Basti durch den Markt. Es ist wirklich entzückend, wie glücklich Leni mit ihrer Banane ist. Im Wagen sitzend und von ihrer Mutter unbeobachtet quetscht sie sich den Bananenbrei genussvoll durch ihre kleinen Fäuste, schmiert ihn auf ihre Wangen, ihre rosa Strickjacke, auf den dunkelblauen Stoff des Kinderwagens, auf … Sebastian hingegen beißt einmal ab und streckt dann die Banane mit den Worten „Mami, ich mag nimmer“ schwungvoll von sich. Leider, leider erwischt er mit dieser Handbewegung das Sakko eines äußerst gut gekleideten Herrn. „Entschuldigen Sie bitte!“

„Na bestens, danke! Können Sie vielleicht besser auf Ihr Kind aufpassen?“ Angies Erkenntnis, dass man mit Kindern im gesellschaftlichen Beliebtheitsranking nicht sehr weit oben angesiedelt ist, bestätigt sich damit. Und dabei ist gar nicht vom Terrain eines Sterne-Restaurants, auch nicht eines gewöhnlichen Wirtshauses, sondern nur von einem Markt unter freiem Himmel die Rede. Tatsächlich ein wunderschöner Mann, der hier verärgert den Bananenschleim aus seinem Sakko reibt. Kurzes, gegeltes, grau meliertes Haar, dunkelgrauer Anzug. Angie ist überzeugt davon, dass er ihr um einiges respektvoller begegnen würde, wenn sie nicht mit ihren um sich schmierenden Kindern hier stünde, sondern sie sich in einem Meeting gegenübersäßen. Wahrscheinlich sogar dann, wenn sie persönlich seinen Anzug mit dem Puderzucker des Jourgebäcks versaut hätte.

„Wissen Sie! Der Junge ist erst drei, da fruchtet nicht jede Erziehungsmaßnahme in vollem Umfang und es tut mir, wie gesagt, sehr leid.“

„Schon gut, ich muss nur noch in ein Meeting und da ist der Dresscode ein anderer.“

„Ach so? Ich kenne Meetings auch ganz gut von innen. Bis 14:30 Uhr sehe ich nämlich ganz anders aus.“

Das musste einfach sein. Der Blick des Mannes ist jetzt schwer einzuordnen. Irgendwas zwischen nachdenklich und gleichgültig. Aber vielleicht ist ihm bewusst geworden, dass hinter der Verkleidung Mutter durchaus eine taffe Geschäftsfrau steht, die ihm in einem fiktiven Meeting ordentlich einheizen könnte.

Na ja, vielleicht nicht ganz so taff. In Wahrheit ist ihr alter Job nicht mehr ganz der alte. In Wahrheit traut man ihr in ihrer 32-Stunden-Woche, in der ein Arbeitstag tatsächlich abrupt mit der Kindergarten-Abholzeit endet, kein komplettes Projektmanagement mehr zu. Und in Wahrheit scharren um diesen Job jetzt andere Young-Bloods, zumindest so lange, bis auch sie verlegen stammelnd im Personalbüro ihre Schwangerschaft bekunden.

Es fängt an zu regnen. „Komm Basti, es regnet, wir gehen heim.“ Angie lässt den George Clooney des Weinberg-Marktes hinter sich – im doppelten Sinne.

„Springst du bitte nicht in die matschige Tomate da, damit machst du alle um dich rum nass und schmutzig.“

Ein süßes Fingerchen zeigt aus dem Kinderwagen Richtung Himmel. „…egen! …egen!“

„Ja, genau, super Leni, Regen!“ Angie freut sich riesig über ihr hochgradig intelligentes Kind. Da wird das Mutterherz schon sehr warm, wenngleich es auch wieder abkühlt.

„Komm jetzt, Basti! Die Leni wird ganz nass im Wagen.“ Basti reagiert nicht. Er stampft unaufhörlich auf den Tomatenbrei am Boden. So als würde er sie nicht hören.

„Ko-omm!“ Es hilft nichts. Sie schnappt sich ihren Sohn, nimmt ihn hoch in die klassische Hüftstütze und hofft, dass sein Proteststrampeln bald aufhört. Einhändig versucht sie, den Wagen durch die Marktstände zu lenken, was mit den ganzen Papiertragetaschen voll Obst und Gemüse, die am Griff hängen, gar nicht so einfach ist.

In der unteren Ablage stapeln sich außerdem Lenis Wickel- und Angies Arbeitstasche inklusive Laptop und auf dem Sitz windet sich die mittlerweile quengelnde Leni mit Bananenaroma. Mit ihrem rechten Arm drückt sie Basti fest auf ihre Hüfte. Sein protestierendes Strampeln hat glücklicherweise nachgelassen, allerdings hat ihr heller Trenchcoat durch seine schmutzigen Schuhe durchaus an Style und souveränem Schick eingebüßt.

 

KORONGKOKONG

KORONGKOKONG

KOROKOKONG

 

Egal jetzt, irgendwie muss Angie es noch einmal rechts rum und dann die Straße hoch bis zu ihrer Wohnung schaffen, etwa zweihundert Meter. Lenis Quengeln steigert sich zu Weinen – wegen des Regens, der Bananenpampe überall, einer vollen Windel, der Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation, wegen was auch immer.

„Wir sind gleich zu Hause, Leni.“ Es regnet sich ein.

„Basti, kannst du bitte ein Stück laufen, du bist ganz schön schwer und mein Arm muss erst wieder Kraft sammeln, weißt du?“ Sie stellt den Buben auf den Boden.

„Nein!“ Basti bleibt stehen und beginnt ebenfalls zu plärren. „Trag mich!“

Angie schüttelt ihren rechten Arm kurz aus. Ihr Bizeps brennt. Nach dieser Minipause setzt sie ihren männlichen Nachwuchs erneut auf die Hüfte, weiter geht‘s. Könnte man zumindest meinen. Wenn da nicht die vom Regen aufgeweichte Papiertüte durchreißen würde. Äpfel kullern auf die Straße, Karotten und der frische Spinat liegen auf dem Bürgersteig. Also muss sie Basti wieder absetzen, was ihn so zornig macht, dass er auf den Spinatblättern herumtrampelt.

„Bastiiiiii!!“, schreit Angie, doch Basti schreit und heult noch lauter und schließlich schraubt auch Leni ihr Klagen um ein paar Oktaven höher.

Begleitet von diesem Gekreische stopft Angie die Spinatblätter, die sie noch retten kann, in ihre Manteltasche, den Karottenbund legt sie auf Lenis Schoß und für die paar eingesammelten Äpfel findet sie noch auf der unteren Ablage neben der Laptoptasche Platz.

„Komm Schatz, da vorne wohnen wir schon“, will sie Basti motivieren. Aber der kleine Mann macht keine Anstalten. Derweil wirft Leni den Karottenbund aus dem Wagen, den Angie gerade noch auffängt. Sie nimmt ihren Sohn an die Hand, der aber nur dasteht und weint und um sich schlägt. Und siehe da, jetzt ist er gerissen, der Knopf ihres Mantels und mit ihm der Geduldsfaden. Angie packt den Rebellen an seiner Jacke und zieht ihn damit wieder auf ihre Hüfte. Dabei spricht sie scharf durch ihre Zähne:

„So, mein Freund, jetzt sage ich dir eins, ich trag dich jetzt bis nach Hause und du machst keinen Mucks mehr! Hör sofort auf zu weinen, sonst ist das Fernsehen heute gestrichen!“ Obwohl Basti davon nicht viel verstanden hat, verängstigt ihn die neue Stimmlage seiner Mutter, wodurch er noch mehr kreischt. Irgendwie schafft sie es mit ihren Kindern die Straße hoch, kämpft sich durch die Eingangstür, in den Lift und schiebt den nassen Wagen mitsamt den Einkäufen und den Bananenverzierungen in die Wohnung.

Baden! Baden ist immer eine gute Idee. Das wärmt auf und beruhigt. Einige weitere Kämpfe später sitzen die beiden endlich in der Badewanne und plätschern friedlich. Zeit, sich um das Chaos aus Schuhen, Jacken, Bananenkleister, Äpfel-Karotten-Spinat-Durcheinander und dem nassen Kinderwagen im Vorzimmer zu kümmern.

„Mami! Leni Kacka macht!“ Oder doch später? Angie rennt zurück ins Bad und versucht, große und kleine Sauereien aus der Wanne zu fischen. Sie gibt auf. Badeschluss! Wasser rauslassen, Kinder abduschen und gleich in den Schlafanzug stecken. Und damit überhaupt die Möglichkeit besteht, das Chaos zu beseitigen und im Optimalfall auch noch irgendein Abendessen zuzubereiten, schaltet sie eben doch den Fernseher an. Die Chance ist gegeben, dass Basti die erzieherische Inkonsequenz nicht bemerkt.

Tatsächlich. Es klappt! Angie schafft es, ihren Trenchcoat auszuziehen, das Vorzimmer in Ordnung zu bringen, zu kochen und den Tisch zu decken. Gerade als sie mit ihren sauberen und wieder zufriedenen Kindern am Tisch sitzt, wird das Essen von einem freudigen „Papi! Papi!“ unterbrochen.

„Hallo, meine Schätze!“ So kommt ein gut gelaunter Vater nach Hause und gibt nach Bilderbuch-Anleitung jedem freundlich lächelnden Familienmitglied reihum ein Küsschen. Dann setzt auch er sich zu Tisch und freut sich über eine ordentliche Portion Spaghetti mit Tomatensoße. „Parmesan?“

„Gerne.“

 

KORONGKOKONG

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Nach dem Abendessen bringt Papi die Kinder ins Bett, liest ihnen eine Geschichte vor und knipst das Licht aus. Frieden. Als Peter aus dem Kinderzimmer kommt, hat Angie inzwischen die Küche aufgeräumt und zwei Gläser Wein eingeschenkt.

Peter umarmt seine Frau, drückt sie fest und küsst sie. Angie zieht sich aus der Umarmung heraus, Berührung kann sie gerade nicht brauchen. Der Zurückgewiesene nimmt die Weingläser zur Wohnzimmer-Couch mit, sie folgt ihm.

Peter reicht ihr ein Glas. „Wie war‘s heut bei dir im Büro?“

Angie denkt nach. „Ach ja, Büro war heute ja auch, schon so lange her. Schatz, bitte nimm es mir nicht übel, ich würde gerne einfach nur den Fernseher einschalten und irgendeinen Alpenkrimi oder so was schauen. Ich kann gerade nicht reden, okay?“

„War es stressig heute mit unseren Zwergen?“

„Mhm, ja.“

„Aber sie geben einem schon viel zurück“, sinniert Peter. „Wenn ich heimkomme und sie fröhlich ‚Papi‘ rufen, das ist schon toll.“

„Mhm, ja.“

Der Krimi beginnt, es gibt noch nicht mal eine Leiche, da ist Angie in ihrer Ecke der Couch eingeschlafen. Zweieinhalb Stunden später wacht sie auf, schleppt sich schlaftrunken ins Schlafzimmer, wacht weitere vier Stunden später wieder auf, holt die jammernde Leni zu sich ins Bett und streichelt sie, bis sie wieder eingeschlafen ist – ganz leise, um Peter nicht zu wecken.

 

KORONGKOKONG

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Angie schaut auf ihr Smartphone, es ist drei Uhr morgens. Eine WhatsApp-Nachricht? Von Dr. Martha Pleimer. Abgeschickt um 1:32 Uhr. Angies Freundin Martha entwickelt gerade ihr eigenes Label – „Babynski“ – als Designerin von Babydecken aus Nicki-Stoff. Nach der Geburt ihrer Tochter Emma, fünfzehn Jahre nach ihrem Sohn Paul, hat sie nämlich herausgefunden, dass sie sich in in ihrem Beruf als Ärztin nicht mehr wohlfühlt. In der Elternzeit hat sie dann ihre Leidenschaft für die Nähmaschine entdeckt. Die WhatsApp-Nachricht enthält ein Bild von einer dieser Babydecken aus Nicki-Stoff. Ein knallblauer Hintergrund, umrandet mit mintgrünen Wellen, darauf ein grüner Traktor, Schweinchen, Schäfchen, Hühnchen, Blümchen und ein Wölkchen mit dem Namen Leo drauf – alle Stoffe im „Stoff-Plätzchen“ eingekauft, die Motive selbst gezeichnet, auf Vlieseline gebügelt, ausgeschnitten und aufgenäht. Unendlich viele Stunden Arbeit, unendlich viele Nicki-Fusseln in der ganzen Wohnung. Martha schreibt: „Bis jetzt genäht, endlich ist es fertig! Mein neuestes Babynski-Stück! Was glaubst du, was ich dafür verlangen kann?“ Tja, Angie überlegt. Um drei Uhr ist sie, bedingt durch die Melotonin-Ausschüttung sowie den Mangel an Licht, im ganz normalen Seelentief nicht zu Diplomatie fähig und schreibt zurück:

„Sehr schön! Was zahlt man als Mutter für eine Decke, die angesabbert, bekleckert und in den Schmutz gezogen wird? Maximal 45 Euro.“

Am Morgen, noch im Bett liegend, öffnet Martha in freudiger Erwartung von Komplimenten zur Babydecke sowie zu ihrer genialen Kreativität die WhatsApp-Antwort von Angie. Was, 45 Euro? Hm. Tja. Martha öffnet direkt auf ihrem Smartphone den Rechner. Wenn man von 45 Euro die Materialkosten von 22,35 Euro abzieht, bleiben 22,65 Euro übrig. Geteilt durch 13 Stunden Arbeitszeit kommt sie dann auf einen Stundensatz von 1,74 Euro. Das ist nicht so viel. Muss man diesen Gewinn dann eigentlich auch noch versteuern?

„Guten Morgen, Schatz“, flüstert ihr Mann Markus von der Nebenmatratze. „Hast du noch lange genäht gestern?“ Martha löscht schnell die Rechnung. „Du hast sogar noch Fusseln und Fäden in den Haaren.“

Martha wuschelt ihre Haare inklusive Nähspuren schnell zu einem Dutt.

„Bis halb zwei, aber ist schön geworden. Liegt unten auf der Couch.“

Martha wählt in ihrem Smartphone den Song TNT von AC/DC aus, verbindet ihr Telefon mit den Bluetooth-Lautsprechern ihres Sohnes Paul in dessen Zimmer und dreht die Lautstärke voll auf. Diese Weckform hat sie sich heute Nacht überlegt. Denn egal wie liebevoll und vorsichtig sie den Coolsten der Familie, der Schule, wenn nicht des gesamten Universums zu wecken versucht, provoziert er sie mit Verweigerung so lange, bis sie streiten. Nur, damit er endlich wieder seinen „Chill-doch-mal“-Satz anbringen kann. Ihr Verantwortungsgefühl schafft es einfach nicht, ihn verschlafen und die Konsequenzen selbst tragen zu lassen. Deshalb wird sie ihm jetzt mal zeigen, wie gechillt sie sein kann.

„Sag mal, drehst du jetzt vollkommen durch?“, krächzt Paul.

Okay, da war eine Nuance Aggressivität in seiner Stimme, aber wach ist er, und eine Antwort darauf erwartet er wohl nicht. Martha nimmt – völlig gechillt – Klein-Emma aus ihrem Gitterbett und mit ihr auf dem Arm kocht sie einen großen Topf Frühstücksbrei aus Hafer-, Hirse- und Quinoaflocken, Nüssen, Cranberrys, Zimt … –

„Ciao!“, rauscht Paul da an ihr vorbei und schlägt die Wohnungstür zu. – … Kardamom, Agavensirup, Reismilch. Sie rührt und rührt und der Brei verschwimmt, bis die Tränen den Ausgang finden und über die Wange rollen. TNT war also auch falsch. Sie weint und drückt ihre Emma wie ein Kuscheltier an sich – anstelle von Paul. Sie hatten früher doch so ein gutes Verhältnis. Wo ist das hin? Heute Abend wird wieder mal versuchen, mit Paul zu reden. Über Respekt, über Verantwortung und den Teamgedanken, speziell in einer Patchwork-Familie. Inzwischen steht Markus frisch geduscht, schick im weißen Hemd zur Jeans in der Küche. Er streicht ihr tröstend über die Wange.

„War jetzt vielleicht auch nicht die optimalste Morgen-Aktion.“ Martha ist unfähig zu sprechen. Sie hat das eigentlich sehr originell gefunden. Und cool.

Markus macht zwei Espresso. „Kaffee? Ich muss leider gleich los, hab um neun einen Conference Call im Büro.“

„Okay, kannst du am Abend Emma nehmen, ich muss mit Paul in Ruhe reden können.“

„Klar.“

 

KORONGKOKONG

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Eine Stunde später trudelt sie mit der frisch gewickelten und umgezogenen Emma in der Maikäfergruppe des Kindergartens ein. Auf dem Flur kommt ihr Beate entgegen. Bei der Begrüßung dieser gut duftenden Frau mit perfektem Make-up, Hochsteckfrisur, Perlen-Ohrsteckern UND freundlichem Lächeln fällt Martha auf, dass sie weder Zähne geputzt noch ihre farbenfrohen Nicki-Fusseln aus dem Haar gebürstet hat.

Wie schafft Beate das nur? Sie hat wohl vor dem Kinderkriegen die richtige Berufsentscheidung getroffen und kann sich ihre Zeit frei einteilen. Klientengespräche und Verhandlungen am Vormittag, ein paar Telefonate am Nachtmittag und definitiv mehr als 1,74 Euro Stundenlohn.

Beate stöckelt zu ihrem Range Rover und düst in die Kanzlei, sie ist schon spät dran. Ihren Klienten hat sie um 8:30 Uhr bestellt, um 12 Uhr hat sie mit ihrem Seniorpartner die Besprechung wegen seiner Pensionierung und der Übernahme seiner Klienten. Und um 14 Uhr sollte sie bereits wieder im Kindergarten sein. Da ist heute Nachmittag Eltern-Kind-Basteln.

Als Beate die Flügeltür ihres Altbaubüros öffnet, ist sie sofort in ihrem Element, sie liebt die Atmosphäre in – bald ihrer eigenen – Anwaltskanzlei. Sie hängt ihren Mantel schnell noch an die Garderobe, ihr Klient wartet bereits auf der dunkelbraunen Ledercouch im Wartezimmer.

„Guten Tag, Herr Obermayer, entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Darf ich Sie gleich in mein Büro bitten?“ Jessica, ihre Sekretärin, folgt ihnen mit zwei Tassen Kaffee, einem Silberkännchen mit geschäumter Milch, einer silbernen Zuckerdose, einer Karaffe Wasser und zwei Gläsern auf einem Silbertablett. Ganz, wie es Beate mag.

Besprechungen, Recherchen, Telefonate, E-Mails, um zwölf Uhr schließlich die Besprechung mit dem Senior, die To-do-Liste für den nächsten Tag – Beate hat heute viel erreicht und das tut richtig gut. Es ist 13:30 Uhr, alles läuft perfekt nach Plan, um 14 Uhr wird sie im Kindergarten sein und mit ihren beiden Mäusen basteln.

„Frau Magister Pichler, der Klient Hirzberger, über den wir gerade gesprochen haben, wäre in fünf Minuten da. Dürfte ich Sie da gleich bekannt machen?“ Die Stimme des Seniors, ein Schlag in die Magengegend.

„Selbstverständlich, das ist eine gute Idee.“

Gegen die Autorität des Seniors kommt sie nicht an. Schnell verschwindet sie in ihrem Büro und ruft ihren Mann an.

„Hey, Honey! Ich muss leider in der Kanzlei bleiben, und in 25 Minuten beginnt das Eltern-Kind-Basteln. Kannst du das vielleicht übernehmen?“

Schon während sie fragt, ist ihr klar, dass das nie umsetzbar ist. Selbst wenn er sich tatsächlich losreißen und sofort losfahren könnte, bräuchte er von der Agentur bis zum Kindergarten locker 45 Minuten durch den Stadtverkehr. Ihr wird ganz schlecht. Sie stellt sich vor, dass alle Mamis in den Kindergarten kommen, fröhlich mit ihren Kindern basteln – nur ihre Mädchen warten und warten und warten. Ihre Mami kommt nicht, sie sitzen verwaist in einem Eck und können nicht mitmachen. Sie wird dann klar als die Business-Mutter abgestempelt werden, die ihre Töchter vernachlässigt. Genau das wollte sie nie. Sie will zeigen, dass Karriere und Familie vereinbar sind. Mist! Verena, die Babysitterin, geht auch nicht ans Telefon, sitzt wahrscheinlich in der Uni. Da klopft es auch schon. Nur pro forma, denn die Tür geht sofort auf.

„Herr Hirzberger, darf ich Ihnen unsere Frau Magister Pichler vorstellen? Sie wird meine Nachfolge antreten und arbeitet sich bereits in Ihre Akten ein.“

Herr Hirzberger zeigt sich äußerst reserviert, streckt aber höflich unterkühlt seine Hand zum Gruß entgegen.

„Ich arbeite jetzt seit mittlerweile sieben Jahren mit dieser Kanzlei zusammen, da gibt es einiges zu lesen und vor allem zu verstehen. Ich hoffe jedenfalls auf gute Zusammenarbeit, Frau Magister Küchler.“

Soll sie ihren Namen korrigieren? Wozu? Keine Zeit vergeuden! Im Laufe der nächsten Monate wird er sich ihn schon einprägen. Jessica bringt Kaffee, drei Tassen, und stellt sie auf dem kleinen Tischchen in der Sitzecke ihres Büros ab. Der Seniorchef bietet Herrn Hirzberger einen Sitzplatz an. Um Gottes willen! Die richten sich hier gemütlich ein. Kein Ausweg. Gefangen im Smalltalk. Herr Hirzberger versucht nicht einmal, die Skepsis seinem neuen, weiblichen Rechtsbeistand gegenüber zu verbergen. Der Seniorchef ist um gute Stimmung bemüht, betont die Kompetenz seiner Nachfolgerin und beginnt, ihren bisherigen Werdegang zusammenzufassen. Mit seiner ruhigen, geordneten Stimme. Währenddessen ist in Beate nichts ruhig und geordnet, sie ist innerlich schon komplett explodiert. Ihre Kinder warten auf sie! Wahrscheinlich schon den Tränen nahe, weil gerade alle Mamis eintrudeln, nur ihre nicht. Beate kann nicht anders, die Löwin in ihr bricht hier ab.

„Es tut mir sehr leid, Herr Hirzberger, ich muss nun zu meinen Kindern in den Kindergarten. Bis zu unserem nächsten Treffen werde ich mich genauestens mit Ihrem Unternehmen und Ihren Akten auseinandergesetzt haben, dann können wir gerne schon ins Detail gehen.“

Der Seniorchef ist verblüfft. Er sieht all seine Bemühungen, die Verlässlichkeit seiner Nachfolgerin zu untermauern, in Luft aufgelöst. Beate packt ihren Laptop in die Handtasche.

„Ich werde gleich heute noch damit anfangen.“ Sie reicht Herrn Hirzberger ihre Hand zum Abschied.

„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.“ Beate verlässt ihr Büro, reißt ihre Jacke vom Garderobenbügel, rennt hinaus, stackselt die Treppe hinunter in die Tiefgarage, startet das Auto und flitzt wie eine Irre durch den Verkehr in Richtung Kindergarten. Nicht ohne ihrem Mann, der sich gerade in einem Meeting befindet, ihr Leid auf die Mailbox zu klagen. Sechsundzwanzig Minuten später bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihr Auto im Halteverbot abzustellen. So schnell sie ihre Pumps tragen, rauscht sie in die Bärengruppe.

„Entschuldigen Sie bitte, ich war noch in einer Besprechung“ zur Pädagogin und „Entschuldigt bitte, Mäusleins, dass ich so spät komme, Mami musste noch arbeiten“ zu den Kindern. Glücklicherweise haben ihre Töchter, die vierjährige Sophie und die dreijährige Louisa, nur das Basteln im Sinn und sind daher schnell versöhnt. „Jetzt bin ich ganz für euch da, legen wir los, hm?“

Endlich können die beiden zu Schere, Kleber, Pinsel und Farbe greifen. Vor allem zu Farbe. Kaum haben die drei auf den kleinen Stühlchen zwischen den anderen bastelwütigen Eltern und Kindern Platz genommen – Beate hat noch nicht mal die anderen Eltern begrüßt –, landet die Farbe nicht auf den beiden vorbereiteten Pappmaché-Ballons, sondern direkt auf Beates eisgrauer Designerhose und gleichzeitig ihrer hellblauen Seidenbluse. Beides nicht waschbar, beides nicht im Sale erstanden, beides heute erst zum zweiten Mal überhaupt getragen.

„Sophie!“ Ja, das war unbeherrscht. „Hältst du den Pinsel bitte über deinen Ballon? Schau mal, wie die Mami jetzt ausschaut!“ Offensichtlich war der Ton nicht nur hysterisch, sondern auch zu laut, denn um sie herum verstummen plötzlich alle. Die Pädagoginnen, Assistentinnen, Kinder, alle Mamis und auch die zwei Väter. Die stecken natürlich allesamt in pflegeleichten Klamotten. Okay, daneben benommen, zugegeben. Trotzdem kann sie jetzt nicht warten, bis die Farbe komplett eintrocknet. Die Anwältin eilt also ins Bad zum kniehohen Kinderwaschbecken und startet vergebliche Rettungsaktionen mit Wasser und Papiertüchern. Sophie läuft ihrer Mami heulend hinterher: „Tschulgung, Mami!“

Nun beginnt auch die zurückgelassene Louisa zu weinen, worauf sie sofort von der Erzieherin hochgenommen und gestreichelt wird. Wie schlecht kann man sich während eines Bastelnachmittags eigentlich fühlen? Beate gibt auf und geht mit Wasserflecken, frisch dazugewonnen Tränen- und Rotzflecken sowie ihrer Tochter Nummer eins zu Tochter Nummer zwei.

„Hey, ihr zwei, alles in Ordnung. Kommt, jetzt malen wir aber“, versucht sie mit ihrer sanftesten Stimme und wohlwollendem Gesichtsausdruck die Reset-Taste zu drücken. Ohne Erfolg. So sitzt die künftige Kanzleiinhaberin schließlich mit beiden Kindern im Arm auf einem Ministuhl und steckt ihnen abwechselnd Trostkekse in den Mund. An ein heiteres gemeinsames Mami-Töchter-Basteln ist nicht mehr zu denken. Damit ihre Töchter aber auf dem anstehenden Lichterfest nicht nur mit Ballons in Zeitungspapier-Optik rumlaufen, fragt Beate, ob sie diese in Heimarbeit fertigstellen darf.

Zwei anlehnungsbedürftige Mädels, die getragen werden wollen, eine Handtasche, zwei Pappmaché-Luftballons und zwei Einwegplastikbecher ohne Deckel, die jeweils mit Farbe gefüllt sind, wie soll die Karriere-Mama auf ihren Pumps das alles in ihren Offroader tragen? Eigentlich unmöglich, aber sie schafft es.

 

KORONGKOKONG

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Nachdem Beate dann zu Hause Äpfel aufgeschnitten, einem Klienten per E-Mail seine Rechtslage im Streit mit seinem Arbeitgeber erklärt, fünf Barbies zwölfmal umgezogen, einen Kaugummi aus Louisas blonden Locken geschnitten, sich vorsichtshalber per SMS beim Seniorchef entschuldigt, das Abendessen gekocht, die Mädchen gewaschen und in den Schlafanzug gesteckt hat, kann der Sandmann endlich seinen hochgeschätzten Job erledigen. Couch? Nicht vergessen: Ballons bemalen! Okay, an den Esstisch! Ruckzuck bemalt sie einen Ballon lila, darauf in pinkfarbener Schrift Sophie und den zweiten umgekehrt, pinkfarben mit Louisa in lila Schrift.

„Hallo Darling, sorry, hat heute etwas länger gedauert.“ Der werte Mann ist nach Hause gekommen und legt gleich los: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es heute bei mir zugegangen ist!“ Gesprächspause bedingt durch Begrüßungskuss.

„Erst ein Meeting nach dem anderen, dann wirft der Kunde plötzlich alles um, worauf wir eine völlig neue Strategie erarbeiten mussten – mal schnell in zwei Stunden – und jetzt sind wir in etwa da angelangt, wo wir schon vor zwei Wochen waren.“

Beate stellt die Ballons zum Trocknen aufs Sideboard. Er nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

„Wie war es bei dir? Ach ja, da war ja dieser Hirzberger.“

Beate erstarrt. „Wuaah! Den hab ich ja ganz vergessen! Ich muss noch arbeiten. Sorry!“

Sie nimmt sich ihren Laptop und verschwindet damit im Nebenzimmer. Am Schreibtisch sitzend, öffnet sie erst mal Facebook, so als Zwischenschritt vorm Einlesen in Hirzbergers Rechtsstreitgeschichten. Sie scrollt sich durch, verteilt verschiedene Likes und hält schließlich bei einem Schlechtes-Gewissen-Posting von Linda inne. Auf weiß-blauem Wolken-Hintergrund steht:

„Kinder halten uns nicht von Wichtigerem ab, sie sind das Wichtigste.“

 

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Direkt nach diesem Posting geht Linda ins Kinderzimmer. Zuerst ans Bett ihrer schlafenden Tochter, streichelt ihr über den Kopf und flüstert:

„Ich hab dich so lieb, mein Anna-Schatz. Immer diese Keiferei, das will ich eigentlich gar nicht. Erst in der Früh der Streit wegen des Jeanskleids und am Nachmittag hast du mich vom Studieren abgehalten. Genau da brauchst du dann alles Mögliche von mir. Hilfe bei der Puppenfrisur, etwas zu trinken, ein Pflaster, was Süßes.“ Dann dreht sie sich zu Emil:

„Es tut mir so leid, dass ich dich heute so am Ärmel gepackt habe. Erst hast du Anna ständig geärgert. Dann war die Sache mit dem Blumentopf, obwohl ich dich genau zwei Minuten davor gewarnt hatte: Lass das, der Topf kann umfallen und wir haben dann eine Riesensauerei aus Scherben und Erde! Ich hab doch nur Willis Schlafenszeit zum Lernen, verstehst du?“ Dann deckt sie Willi in seinem Gitterbettchen zu.

„Ich bin so froh, dass es dich gibt, mein kleiner Schatz! Du brauchst mich noch so sehr und ich sollte froh darüber sein.“ Linda wählt aus Annas Kuscheltieren den Schäferhund aus und drückt ihr Gesicht in den weichen Stoff, ihr Mann schaut im Wohnzimmer fern.

Bevor sie Kinder bekommen hat, war Linda Flugbegleiterin. Es machte ihr Spaß, ständig unterwegs zu sein, auch wenn viele sie unschön als Saftschubse bezeichneten. Wie dem auch sei, mit drei Kindern ist dieser Job nicht mehr möglich. Sie ist jetzt 38, da muss karrieremäßig doch noch was drin sein. Deshalb das Psychologie-Studium an der Fernuni. Es ist anstrengend, fordernd – und in Teilzeit dauert es ewig, nämlich zwölf lange Semester. Aber es tut ihr gut und sie hat das Gefühl, endlich mal was „Gescheites“ zu machen. Aber was bringt es, wenn sie sich vormittags schon mit dem Lernen auspowert und für die Kinder dann überhaupt keine Nerven mehr hat? Linda setzt sich auf den Froschteppich. Einfach nur im Dunkeln bei ihren Liebsten sein, das braucht sie jetzt. Dass der kleine Willi so bockig geworden ist, seine großen Geschwister haut, gerne Bauklötze, Autos, Mandarinen, Kekse – die Liste wäre unendlich fortführbar – um sich wirft und mit seinem geringen Wortschatz zu allem nur Nein sagt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Auswirkung ihrer Unentspanntheit.

Laufen oder Yoga würde helfen. Theoretisch. Dazu müsste sie ihr Leben aber steuern können – sie hingegen wird nur gesteuert. Träne für Träne rollt jetzt über ihre Wange. Selbstmitleid? Mag sein. Erschöpfung? Ganz bestimmt. Täglich wird sie von der Kinder-Studium-Haushalt-Ehe-Mühle zermalmt, um dann jeden einzelnen Abend völlig zerschlagen auf der Couch zu sitzen – inklusive Augenringen, Frustspeck und sicherheitshalber noch einer Tafel Schokolade. Dabei hat sie sich immer eine Familie gewünscht und im Bilderbuch steht das auch ganz anders beschrieben. Da tanzt man fröhlich über die Wiese, pflückt Blumen, Vater und Mutter lächeln sich zwischendurch an, überschäumend vor Glück und Stolz, und später spielen Eltern und Kinder gemeinsam auf einer reichlich gedeckten Picknickdecke Mau-Mau. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Durch ein Dickicht aus Überforderung, Nervenmangel, Ehekrach, Erziehungsdilemmata, Verantwortung, Patchwork-Herausforderungen und vielen weiteren Sorgen dringt dann auch noch der Schrei nach Selbstverwirklichung und Wertschätzung. Wahrscheinlich deshalb, weil weder das eine noch das andere gegeben ist. Also ran an die Sprossen der Karriereleiter, ran an die berufliche Neuorientierung, ran an die Weiterbildung, ran an die Drei-, Vier-, Fünffach-Belastung, ran an den Burnout! Warum müssen wir Frauen so tun, als wäre das alles kein Problem? Damit setzen wir uns doch gegenseitig unter Druck!

Jetzt ist der Tränendamm komplett gebrochen, Lindas Heulkrampf ist nicht mehr zu stoppen. Eine Freundin würde ihr jetzt guttun, doch Linda war schon lange nicht mehr aus. Wie auch? Mit vielen nicht umgesetzten „Jetzt gehen wir aber mal wieder auf einen Kaffee!“, „Kommt doch mal zu uns zum Grillen!“, „Treffen wir uns die Woche doch mal zum Punschen auf dem Weihnachtsmarkt!“ hält sie sich die Kontakte über die Jahreszeiten hindurch aufrecht. Inzwischen liegt Linda mit dem an sich gedrückten und von Tränen durchnässten Kuschelhund in Fötus-Stellung gekrümmt am Boden. Ihre beiden engsten Freundinnen trifft sie etwa dreimal im Jahr in einem Café, wo dann die eine der anderen ein Update über die Sorgen und Probleme der letzten Monate, über die neuen Zukunftspläne und das unbedingte Versprechen, bis zum nächsten Treffen nicht mehr so viel Zeit vergehen zu lassen, gibt. Wir erzählen uns nur noch unsere jeweiligen Geschichten, anstatt einfach mal gemeinsam eine neue zu schreiben. Ich habe überhaupt kein soziales Leben mehr! Linda schluchzt und schluchzt und schluchzt. Maximal ein Mittagessen mit Natalie oder Martha, weil sowieso gegessen werden muss und ich zum Kochen für mich sowieso keine Kraft habe. Inzwischen ist Marc zu ihr ins Zimmer geschlichen, hat sich zu ihr gelegt und umarmt sie.

„Ich würde sagen, du gehst gleich morgen zu Frau Dr. Tupy-Groß zur Akupunktur.“

 

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Am nächsten Morgen – Frau Dr. Tupy-Groß konnte sie tatsächlich dazwischenschieben – sitzt Linda im Wartezimmer der TCM-Praxis. Welch ein Zufall! Martha sitzt auch da. Die beiden fallen sich lachend in die Arme.

„Hallo Süße!“ Bussi links, Bussi rechts. „Da sitzen wir nun.“

„Ach, Martha, ich glaub, ich muss das Studium erst mal auf Eis legen, das hat so keinen Sinn.“

„Ehrlich, Linda, das finde ich gut, Willi ist noch so klein, das laugt dich ja komplett aus.“

Schon wieder laufen Linda die Tränen über die Wangen.

„Unsere Tupy-Groß kriegt dich wieder hin. Weißt du, wer auch hier ist? Natalie!“

„Was? Na dann schaffen wir auf diese Weise wenigstens mal ein Treffen.“

Sie grinsen bemüht.

Da erklingt der Türsummer und Beate kommt zur Tür herein. Wieder umwerfend schick, heute im dunkelblauen Kostüm, kombiniert mit einem aufregend bunten Seidenschal und roten Pumps.

„Hallo Beate!“

„Hallo, wie geht’s euch? Martha, bist du nun in der Alternativmedizin gelandet?“

„Nein, ich mache überhaupt nichts mehr mit Medizin, ich mach jetzt was ganz anderes. Ständig mit Krankheit konfrontiert zu sein, war einfach nicht meins. Ich designe und nähe jetzt Babydecken. Das macht mir total Spaß, ich kann meine Kreativität ausleben und es läuft total gut an.“

„Das ist schön.“ Beate hat ihr das wahrscheinlich genauso wenig geglaubt wie Martha sich selbst. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wenn sie fleißig weiternäht, kann sie in zwei Monaten ihre Sachen auf dem Adventsmarkt anpreisen.

Martha wendet sich wieder Linda zu.

„Angie war auch hier, offensichtlich recht früh, sie ist mir entgegengekommen. Musste aber gleich wieder ins Büro.“

„Scheint heute großes Treffen von Müttern zu sein, die nach Energie lechzen.“

„Haha, aber es geht uns ja so gut und wir haben alles im Griff. Familie, Job, Haushalt, Ehe – und dabei haben wir einen durchtrainierten Körper und sehen unfassbar jung aus.“

„Genau.“

Das „Genau“ kam jetzt übrigens von Beate, die Linda und Martha aufmerksam zugehört hat und nun in Gedanken vertieft auf ihrem Stuhl sitzt.

 

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So schlägt das Familienherz,

so mahlt die Alltagsmühle.

 

Eine Weile ist es still, dann springt Beate auf und referiert vor den beiden wie auf einem Anwaltskongress:

„Wollen wir so weitermachen, bis unsere Kinder volljährig sind? Da haben wir graue Haare, Falten und weitere Alterserscheinungen. Und dann soll unser Leben losgehen?“ Als stünde sie hinter einem imaginären Rednerpult, wettert sie weiter: „Es kann nicht sein, dass wir uns in alle Richtungen zerreißen müssen und dabei trotzdem zu kurz kommen. Es ist unser Recht, auch uns selbst zu verwirklichen.“

Weder Martha noch Linda haben Beate bisher so erlebt.

„Die Ursache liegt einfach im System. Es kettet uns an eine Mühle, aus der wir nicht rauskommen“, sagt Linda.

„System! Ja, das System!“ Beate ist nicht zu bremsen. „Wir sind doch intelligente Frauen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und enormer Power.“ Jetzt geht sie direkt auf die beiden zu. „Wenn wir uns zusammensetzen und miteinander tüfteln und brainstormen, kommen wir schon auf eine Lösung.“

„Und stürzen das System?“, fragt Martha stirnrunzelnd.

„Da wäre ich auch gerne dabei!“ Natalie, die gerade aus dem Behandlungsraum kommt, springt sofort auf die Welle der Euphorie auf.

„Okay“, sagt Beate und zieht ihr Smartphone aus der Tasche, „sagen wir Mittwoch in zwei Wochen? Erste Aufgabe an alle: sich für diesen Termin Zeit freizuschaufeln.“

„Super, ich ruf Angie an, die ist sicher auch dabei“, ist nun auch Linda angefixt.

„Ja, fünf ist eine tolle Gruppengröße“, bemerkt Martha.

Und Beate zählt auf:
„Toll, welche Bereiche wir abdecken: Kreativität, Psychologie, Recht, Werbung, Medizin – und was macht Angie noch mal?“

 

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Fortsetzung folgt!
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