Der Aaaaaaaah-Effekt

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Wenn ich dem Kaminkehrer die Türe öffne, dann immer in freudiger Erwartung auf das Glück, das mir in Bälde ganz sicher beschert wird.

„Guten Morgen!“ begrüße ich den netten, jungen Herrn freudestrahlend.
„Guten Morgen!“ sagt er eher zurückhaltend. „Ich bin heute allein da. Wissen Sie, ich bin noch Lehrling, ich werde …!“
„Sie kennen sich ja aus, oder?“, unterbreche ich schnell. Ich tu’s nämlich nicht und widme mich deshalb sicherheitshalber wieder hochbeschäftigt dem Geschirrspüler. Er kommt klar. Offensichtlich. Sehr sympathisch.

Kurze Zeit darauf steht der Herr in schwarz bei mir in der Küche.
„Dürfte ich bitte aufs Dach? Ich müsste mir das bitte ansehen.“
„Klar, kein Problem!“
Ich begleite den Herrn in den oberen Stock, hole den Stockhaken (ja, den Begriff habe ich extra gegoogelt) zum Herunterziehen der Dachbodentreppe. Der Kaminkehrer zieht kräftig daran und es fallen uns sofort kleine schwarzbraune Würstchen entgegen.
„Iiiiiiih! Was ist das?“, frage ich in der höchst unrealistischen Hoffnung, dass es nicht das ist, wonach es aussieht.
Der junge Mann lächelt verlegen und rüttelt weiter an der störrischen Bodentreppe. Und mit jedem Rütteln fallen noch mehr dieser dunklen vertrockneten Würstchen herunter.
„Oh nein, das ist Kacke!“, bringe ich es jetzt einfach mal auf den Punkt. Und während der Kaminkehrer weiter bemüht ist, die Holztreppe auf den Boden zu kriegen, renn ich angewidert die Treppe runter, um Besen und Schaufel zu holen.

Inzwischen hat es der Kaminfeger auf den Dachboden geschafft und ich fege Kotwürstchen für Kotwürstchen vom Parkettboden auf das Schäufelchen. Klarerweise nicht ohne Analyse. Von einem Vogel sind die nicht. Zu schwarz und viel zu groß. Jetzt bloß nicht atmen. Ungemütlich so ein Ekelgefühl. Es breitet sich auf meiner Haut aus und zieht sich über den Rücken hoch bis zu den Schultern. Die Würstchen sind fingerdick und sehr ausgetrocknet. Ausgetrocknet heißt also alt. Nicht frisch. Ich kehre und kombiniere. Wenn also auf dem Dachboden ein Tier ist oder war, ist es wahrscheinlich tot. Der Dachboden war schätzungsweise vor einem Jahr das letzte Mal geöffnet. Dort oben ist nichts außer Dämmwolle. Wie soll es also Nahrung gefunden haben? Ich stelle mir gerade ein braunes, kurzbeiniges Felltier vor als der Kaminkehrer von oben ruft:
„Ich habe schlechte Nachrichten!“
„Oh nein!“, in mir steigt Panik hoch und mein ganzer Körper fängt an zu pulsieren.
„Doch leider. Der Kopf schaut gar nicht mehr gut aus!“

„Uaaaaaaaaahh! Aaaaaaaaaaaaaah! Aaaaaaaaaaah!“, schreie ich in höchsten C und renne die Treppe hinunter. „Aaaaaaaaaaah! Aaaaaaaaaaaaaaaaah!“

Der Kaminkehrer ruft auch etwas, aber ich kann ihn nicht hören, weil ich so schreie! Mein Kopf pocht. Ich halte das nicht aus! Vor meinem geistigen Auge sehe ich den zerquetschen oder aufgeplatzten oder gespaltenen Kopf eines Felltieres mit kurzen Beinen, das nur wenige Höhenmeter von mir entfernt ist. Ebenso wie die bemühten Rufe des armen Schornsteinfegerlehrlings, die ich immer noch nicht verstehen kann, weil ich immer noch schreie.

„Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!“
Gottseidank verliert meine Stimme endlich an Kraft, sodass die Worte des gegen mich Anschreienden endlich verständlicher werden: „Kein Tier! Kein Tier!“ wiederholt der arme Kerl mantraartig. „Kein Tier!“

Ich sitze auf der untersten Stufe der Treppe und verarbeite die Worte. Kein Tier. Kein Tier? Was heißt das? Langsam beruhigt mein Parasympathikus die in Gang gesetzten „Fight or Flight“-Aktivitäten meines Organismusses. Das Rauschen in meinem Kopf wird weniger. Ich bekomme wieder Luft und bis der Herr die Leiter hinuntergeklettert ist, kann ich schließlich wieder Information des netten Glücksbringers aufnehmen:
„Der Kamin(!)kopf ist baufällig und muss saniert werden!“

(Wahre Geschichte)

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